Gesammelte Urteile: Kopftuch & Verbot

Kopftuch und Niqab

OVG Hamburg: Niqabverbot in der Schule ohne ein Gesetz ist rechtswidrig (29.01.2020, 1 Bs 6/20).
„Es kann nicht ohne Weiteres angenommen werden, dass das Tragen eines Gesichtsschleiers (Niqab) im Unterricht durch eine Schülerin die Kommunikation mit ihr unmöglich macht.
Für die Anordnung an eine Schülerin, die aus religiösen Gründen einen Niqab trägt, im Unterricht ihr Gesicht zu zeigen, bedarf es einer klaren gesetzlichen Regelung. Eine solche Vorschrift enthält das derzeit geltende Hamburgische Schulgesetz nicht. Ohne eine solche Regelung besteht auch keine rechtliche Grundlage, von den Sorgeberechtigten der Schülerin zu verlangen, dass sie auf diese einwirken, im Unterricht ihr Gesicht zu zeigen.“ (Leitsätze Nr. 2 und Nr. 3)

BVerfG: Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen verfassungsgemäß (14.01.2020, 2 BvR 1333/17, zuvor schon im Eilverfahren entschieden)
„Angesichts der konkreten Ausgestaltung des verfahrensgegenständlichen Verbots kommt keiner der kollidierenden Rechtspositionen vorliegend ein derart überwiegendes Gewicht zu, das verfassungsrechtlich dazu zwänge, der Beschwerdeführerin das Tragen religiöser Symbole im Gerichtssaal zu verbieten oder zu erlauben. Die Entscheidung des Gesetzgebers für eine Pflicht, sich im Rechtsreferendariat in weltanschaulich-religiöser Hinsicht neutral zu verhalten, ist daher aus verfassungsrechtlicher Sicht zu respektieren.“ (Leitsatz Nr. 8)
Zusatzinformation: ein weiteres Verfahren ist derzeit vor dem BVerwG rechtshängig. Das BayVGH urteilte in der Vorinstanz, dass eine Klage nicht einmal zulässig sei, da die Referendarin nicht mehr von der Verletzung beschwert sei. In Bayern wurden Verbote noch jüngst allein aufgrund einer Weisung des Justizministeriums verboten. In erster Instanz gewann die Klägerin (s. VG Augsburg, Urteil vom 30.06.2016 – Au 2 K 15.457 und  VGH München, Urteil v. 07.03.2018 – 3 BV 16.2040)

EuGH: Kopftuchverbot für Beschäftigte rechtmäßig (14.03.2017 – C-157/15)
„Eine solche interne Regel eines privaten Unternehmens kann hingegen eine mittelbare Diskriminierung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 darstellen, wenn sich erweist, dass die dem Anschein nach neutrale Verpflichtung, die sie enthält, tatsächlich dazu führt, dass Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung in besonderer Weise benachteiligt werden, es sei denn, sie ist durch ein rechtmäßiges Ziel wie die Verfolgung einer Politik der politischen, philosophischen und religiösen Neutralität durch den Arbeitgeber im Verhältnis zu seinen Kunden sachlich gerechtfertigt, und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels sind angemessen und erforderlich; dies zu prüfen, ist Sache des vorlegenden Gerichts.“
Aktuell: Diese Frage liegt derzeit wieder bei dem EuGH zur Entscheidung, da eine Kassiererin aus Bayern der Meinung ist, dass der deutsche Antidiskriminierungsschutz weiter geht als der europäische Schutz und daher Vorrang haben muss. In Deutschland muss nämlich eine „konkrete Gefahr“ bestehen (s.u.)

EGMR: Vollverschleierungsverbot im öffentlichen Raum ist rechtmäßig (11.07.2017, Az. 37798/13)
Das Verbot, an öffentlichen Plätzen in Belgien einen Vollschleier zu tragen, verstößt nicht gegen die Menschenrechte. Mitgliedsstaaten hätten das Recht, selbst zu bestimmen, wie das gemeinsame Leben in der Öffentlichkeit am Besten stattfinden soll. Ebenso entschied der EGMR bereits für ein französisches Gesetz, s. >hier.

BVerfG: (abstraktes) Kopftuchverbot für KITA Erzieherinnen verfassungswidrig (18.10.2016, 1 BvR 354/11)
„Die angegriffenen fachgerichtlichen Entscheidungen werden den Erfordernissen der gebotenen verfassungskonformen einschränkenden Auslegung nicht gerecht. Ihre rechtliche Würdigung, nach der bereits eine abstrakte Gefährdung der in § 7 Abs. 6 Satz 1 KiTaG a.F. genannten Schutzgüter zur Erfüllung des Verbotstatbestands genügt, trägt der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der in Kindertagesstätten tätigen Erzieherinnen und Erzieher nicht in angemessener Weise Rechnung. Sie vernachlässigt das Gewicht ihrer positiven Glaubensfreiheit im Zusammenhang mit einem plausibel dargestellten imperativen religiösen Bedeckungsgebot. Die bislang getroffenen Tatsachenfeststellungen geben im Übrigen keinerlei Anhalt für eine hinreichend konkrete Gefahr für den Einrichtungsfrieden oder die Neutralität des öffentlichen Trägers durch das Auftreten der Beschwerdeführerin mit dem „islamischen Kopftuch“ an ihrem Arbeitsplatz. Damit verletzen die angegriffenen Entscheidungen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG.“ (Rn. 72-74)
Aktuell: Der Europäische Gerichtshof befasst sich derzeit mit dieser Frage. Europarechtlich wäre nämlich ein Verbot u. U. rechtmäßig, obwohl der Diskriminierungsschutz in Deutschland bei dieser Frage weiter geht (s. Az.: C-804/18)

BVerfG: Kopftuchverbot für Lehrerinnen ist verfassungswidrig (27.01.2015, 1 BvR 471/10 , 1 BvR 1181/10)
„Ein landesweites gesetzliches Verbot religiöser Bekundungen (hier: nach § 57 Abs. 4 SchulG NW) durch das äußere Erscheinungsbild schon wegen der bloß abstrakten Eignung zur Begründung einer Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität in einer öffentlichen bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule ist unverhältnismäßig, wenn dieses Verhalten nachvollziehbar auf ein als verpflichtend verstandenes religiöses Gebot zurückzuführen ist. Ein angemessener Ausgleich der verfassungsrechtlich verankerten Positionen – der Glaubensfreiheit der Lehrkräfte, der negativen Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Schülerinnen und Schüler sowie der Eltern, des Elterngrundrechts und des staatlichen Erziehungsauftrags – erfordert eine einschränkende Auslegung der Verbotsnorm, nach der zumindest eine hinreichend konkrete Gefahr für die Schutzgüter vorliegen muss.“ (Leitsatz Nr. 2)
Zusatzinformation: Das erste Kopftuchurteil vom 24. September 2003, 2 BvR 1436/02, hatte noch das Ergebnis, dass Kopftuchverbote für Lehrerinnen ohne eine gesetzliche Grundlage verfassungswidrig seien. Ob dies auch für Verbote mit einem förmlichen Gesetz  gelte, hat der Senat 2003 noch offen gelassen.

BVerfG: Zuschauerinnen im Gerichtssaal dürfen ein Kopftuch tragen (27. Juni 2006, 2 BvR 677/05).
„Das Verhalten des Jugendrichters verletzt Art. 3 Abs. 1 GG. Der Jugendrichter hat verkannt, dass für den Erlass einer sitzungspolizeilichen Maßnahme eine Störung der Verhandlung konkret festzustellen ist und dass bei der insoweit vorzunehmenden Prüfung grundrechtliche Positionen des Einzelnen von Bedeutung sein können. Daneben trägt die Maßnahme der besonderen Bedeutung des Grundsatzes der Öffentlichkeit mündlicher Verhandlungen als Bestandteil sowohl des Rechtsstaatsprinzips wie des Demokratieprinzips (vgl. BVerfGE 103, 44 <63>) nicht ausreichend Rechnung. Dieser Grundsatz gilt zwar nicht ausnahmslos; insbesondere besagt er noch nichts zu den Modalitäten, unter denen die Öffentlichkeit zugelassen wird. Ungeachtet der einfachgesetzlichen Konkretisierung in § 176 GVG zwingt sein verfassungsrechtlicher Rang den Richter jedoch dazu, im Rahmen der Wahrnehmung der sitzungspolizeilichen Gewalt nach pflichtgemäßem Ermessen auch die hinter der Öffentlichkeit stehenden Belange angemessen zu berücksichtigen. Dem wird eine undifferenzierte Handhabung der Frage des Tragens von Kopfbedeckungen nicht gerecht“ (Rn. 22).

BVerfG: Kopftuchverbot für Verkäuferinnen verfassungswidrig (30. Juli 2003, 1 BVR 792/03)
„Eine Kündigung ist nur gerechtfertigt, wenn und soweit diese auf Grund plausibler und nachvollziehbarer Erwägungen durch personen-, verhaltens- oder betriebsbedingte Gründe „bedingt“ ist, die einer „Weiterbeschäftigung“ des Ar- beitnehmers entgegenstehen (§ 1 Abs. 2 KSchG). Dabei geht es nicht um die Sank- tionierung unbotmäßigen Verhaltens, sondern um die Folgen, die ein bestimmtes Verhalten für die weitere Beschäftigungsmöglichkeit des Arbeitnehmers hat. Deshalb ist es sachgerecht, wenn das Bundesarbeitsgericht bei der Herbeiführung eines schonenden Ausgleichs der unterschiedlichen grundrechtlichen Positionen die Glau- bensfreiheit der Arbeitnehmerin nicht auf einen möglichen „Verdacht“ hin als beiseite gestellt ansieht (unter Berufung auf Böckenförde, NJW 2001, S. 723 <728>), sondern eine konkrete Gefahr des Eintritts der von der Beschwerdeführerin behaupteten ne- gativen betrieblichen oder wirtschaftlichen Folgen verlangt.“ (Rn. 25)
Aktuell: 

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